verfasst von: Dietmar Boldt, BScN, Dr. Cornelia Brandstötter-Gugg, B.A. MA
Erschienen in: Ethik in der Medizin
Zusammenfassung
Für ältere und hochaltrige homosexuelle Menschen ist die Wahrung der Identität im Pflegekontext häufig erschwert. Neben der generell vorherrschenden Tabuisierung oder Abwertung von Sexualität im Alter sind homosexuelle Personen zusätzlich oft mit heteronormativen Strukturen bis hin zu Diskriminierungserlebnissen konfrontiert. Literatur zum ethischen Handeln im Gesundheitswesen greift den Anspruch der Nichtexklusivität auf. Achtung und Würde stehen hierbei an erster Stelle und sollen allen Personen gleichermaßen zukommen.
Diese systematische Literaturübersicht verfolgt das Ziel, anhand von wissenschaftlicher Literatur ethische Ansätze und pflegerische Unterstützungsangebote herauszuarbeiten, die bei der Wahrung der Identität älterer und hochaltriger (> 60) homosexueller Menschen helfen können. Forschungsfrage: „Wie kann die Identität homosexueller älterer Menschen durch die Unterstützung von Pflegepersonen gewahrt werden?“
Anhand eines narrativen Reviews konnten sechs relevante Studien identifiziert werden. Die Recherche wurde in den Datenbanken PubMed und CINAHL durchgeführt.
Drei Hauptkategorien wurden identifiziert, die für das Thema Homosexualität im Alter mit seinen Herausforderungen übergreifende Maßnahmenempfehlungen darstellen: Aufklärung und Schulung von Fachkräften, strukturelle Rahmenbedingungen und ein sicheres Umfeld durch eine bedarfsgerechte Versorgung.
Pflegepersonen können die Wahrung der Identität homosexueller älterer Personen durch Anerkennung in Form von Zuwendung durch pflegerische Betreuung und soziale Wertschätzung fördern. Zudem ist es wichtig, dass eine rechtliche sowie strukturelle Gleichstellung homosexueller Personen im Pflegekontext und darüber hinaus erfolgt. Eine Auseinandersetzung mit ethischen Grundsätzen und Ansätzen ist hierfür unerlässlich.
Hinweise
Einleitung
Global wird laut der World Health Organization (WHO) jährlich ein Anstieg von 2 % bei der Anzahl älterer Menschen verzeichnet. Im Jahr 2016 wurde erhoben, dass 13 % der Weltbevölkerung über 60 Jahre alt sind. Prognosen zeigen, dass der Anteil der über 60-Jährigen weltweit bis 2050 auf bis zu 21 % steigen soll (WHO 2016). In Österreich macht der Anteil der Personen die über 65 Jahre alt sind z. B. 19,9 % der Bevölkerung aus (Statistik Austria 2024). Die immer älter werdende Bevölkerung hat große Auswirkungen auf die Gesellschaft sowie das Gesundheitssystem und stellt diese vor Herausforderungen (WKO 2022b). Um diesen, sich wandelnden Altersstrukturen gerecht zu werden, besteht ein Bedarf an entsprechenden Konzepten und Versorgungsstrategien (Neubart 2015).
Das Bedürfnis nach körperlicher Nähe und nach sexuellem Kontakt nimmt im Alter nicht einfach ab. Sexualität bleibt ein zentraler Faktor des menschlichen Verhaltens, auch, wenn er sich im Laufe des Lebens verändert (Müller 2019). Es handelt sich hierbei um Empfindungen, die unabhängig vom Alter sind und auch bei eventuell auftretenden Funktionsstörungen weiter bestehen bleiben (Baumann 2019).
Die Anzahl älterer homosexueller Frauen und Männer nimmt im gleichen Maße mit der alternden Bevölkerung zu. Laut der Wirtschaftskammer Österreich (WKO 2022a) und der Bundeszentrale für politische Bildung (2010) gehen Studien davon aus, dass 2–10 % der Bevölkerung homosexuell sind. Bei Bisexualität wird sogar von bis zu 50 % ausgegangen. Dies sind jedoch nur Schätzwerte, ohne eine konkrete statistische Erfassung. Smith und Wright (2021) beschreiben in ihrer Studie, dass LGBTQI+ Menschen im Alter zumeist in ihrer eigenen Wohnung bleiben wollen, wenn ein Pflegebedarf besteht. Dabei ist es wichtig, die Erfahrungen der Betroffenen zu verstehen, wie auch ihre Wahrnehmung der häuslichen Pflege. Oft leben ältere homosexuelle Personen auch in Pflegeheimen, wo das Ausleben von Sexualität und Intimität generell oft durch z. B. die räumlichen Strukturen beeinträchtigt ist (Baumann 2019).
Dass alle Menschen ein gleiches Maß an Fürsorge erhalten, entspricht den ethischen Grundlagen im Gesundheitswesen. Achtung und Würde stehen hierbei an erster Stelle und sollen allen Personen gleichermaßen zukommen. Literatur zum ethischen Handeln im Gesundheitswesen greift diesen Anspruch der Nichtexklusivität auf (Schnell 2017). Der Fokus dieser Studie liegt auf der Wahrung der Identität homosexueller älterer Menschen. Mit Identität ist eine Art und Weise gemeint, wie Menschen sich selbst aus ihrer biografischen Entwicklung, der sogenannten Biografie, heraus wahrnehmen und verstehen. Dies geschieht in der ständigen Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt. Die zentralen Bestimmungsmerkmale, die in die Entwicklung der eigenen Identität einfließen, sind zum Beispiel das Geschlecht, die Sexualität, Alter und soziale Herkunft. Ethnizität, Nationalität und Gruppenzugehörigkeit, unter anderem auch der Beruf sowie der soziale Status, aber auch persönliche Eigenschaften und Kompetenzen spielen eine wichtige Rolle (Lucius-Hoene 2021).
Fragestellung und Ziel
Ausgehend von den dargestellten Problemen und Herausforderungen in Bezug auf das Thema wird dem Ziel nachgegangen, genauer zu beleuchten, wie sich die Situation der Pflege älterer homosexueller Menschen darstellt. Es soll thematisiert werden, wie Pflegepersonen die Biografien und Erfahrungen homosexueller Personen miteinbeziehen können, um die Identität der Betroffenen zu stärken und vorhandene Ressourcen zu fördern. Die Erkenntnisse sollen dazu dienen, Pflegepersonen in der Praxis dahingehend zu sensibilisieren, was im Umgang mit pflegebedürftigen homosexuellen älteren Menschen zu beachten ist und wie dies im Pflegeprozess miteinbezogen werden kann. Es ergibt sich die Forschungsfrage:
Wie kann die Identität homosexueller älterer Menschen durch die Unterstützung von Pflegepersonen gewahrt werden?
Material und Methode
Als Methode wurde ein narratives Review durchgeführt. Hierbei wurde versucht, möglichst viele Aspekte der PRISMA 2020 Checkliste zu erfüllen, um eine hohe Qualität zu gewährleisten. Da die Studie aus einer Abschlussarbeit im Bereich Pflegewissenschaft entstanden ist, wurden die Daten jedoch primär von einer Person (Boldt) unter Begleitung (Brandstötter-Gugg) erhoben und bewertet.
Literaturrecherche
Zunächst wurde der Untersuchungsgegenstand genau anhand des SPIDER-Schemas (Sample, Phenomenon of Interest, Design, Evaluation und Research type) definiert und eine Grobrecherche durchgeführt. Im Anschluss wurde die eigentliche Literatursuche zum gewählten Thema ausgeführt. Diese beinhaltet die Definition der Suchbegriffe, der Ein- und Ausschlusskriterien und die Dokumentation der Recherche. Abschließend wurde die Literatur kritisch bewertet und es folgte die Synthese der gefundenen Erkenntnisse. Es wurde ein thematisches Syntheseverfahren angewandt, bei dem die eingeschlossenen Studien oder Teile dieser zu übergeordneten Synthesepunkte zusammengefasst wurden. Hierbei wurden drei Themen generiert, die sich zur Beantwortung der Forschungsfrage eignen (Kleibel und Mayer 2011).
Die Recherche wurde von September 2022 bis November 2022 anhand der Datenbanken PubMed und CINAHL und in elektronischen Zeitschriftenkatalogen und Bibliotheken durchgeführt. Hierzu wurden folgende Suchbegriffe, die einzeln oder kombiniert Verwendung fanden (siehe Tab. 1), definiert. Zusätzlich erwies sich die „Berrypicking“-Methode als hilfreich.
Tab. 1
Suchbegriffe | Keywords |
---|---|
Homosexuell | Homosexuality |
Älter | Elderly |
LGBTQI+, LGBT | LGBTQI+, LGBT |
Gleichgeschlechtliche Orientierung | Same sex orientation |
Ältere Menschen | Elderly people |
Pflegepersonen | Caregivers |
Identidad | Identity |
Die Suchbegriffe wurden mit den Bool’schen Operatoren AND, OR und NOT, zu Deutsch UND, ODER und NICHT, miteinander verknüpft. Zudem wurden sogenannte Limits und Filter zur weiteren Einschränkung der Suchtreffer verwendet, welche sich an den zuvor definierten Ein- und Ausschlusskriterien (Tab. 2) orientieren. Das Publikationsdatum der Quellen konnte auf den Zeitraum 2012 bis 2022 eingegrenzt werden.
Tab. 2
Ein- und Ausschlusskriterien
Variable | Einschlusskriterien | Ausschlusskriterien |
---|---|---|
Population | Homosexuelle ältere Menschen > 60 Jahre, Pflegepersonen | Heterosexuelle ältere Menschen > 60,homosexuelle Menschen < 60 Jahre |
Setting | Stationär, extramural, Langzeiteinrichtungen | Intensivstation, Ambulanzen |
Publikationsart | Quantitative und qualitative Studien, Mixed-Methods-Studien und Metaanalysen | Nicht-wissenschaftliche Literatur; Monographien, Sammelwerke |
Zeitraum | 2012 bis 2022 | Vor 2012 |
Sprache | Deutsch/Englisch | Andere Sprachen |
Literaturanalyse
Durch die Literaturrecherche konnten zunächst 419 potenziell relevante Publikationen identifiziert werden. Durch die Sichtung der Abstracts und Identifikation von Duplikaten konnten 402 Studien ausgeschlossen werden. Anschließend wurden die 17 verbleibenden Publikationen einer Volltextanalyse unterzogen. Von diesen 17 Studien entsprachen neun Publikationen nicht den beschriebenen Ein- und Ausschlusskriterien. Somit konnten sechs Studien zur Bearbeitung der Forschungsfrage herangezogen werden. Dieses Verfahren ist in Abb. 1 (Flowchart) ersichtlich.
Die kritische Analyse der eingeschlossenen Studien wurde anhand der Beurteilungshilfen des Joanna Briggs Instituts (JBI 2020) durchgeführt. Zur weiteren Einschätzung der Studienqualität wurde der Fragenkatalog für eine qualitative und quantitative Bewertung und zur unterstützenden Einschätzung der methodischen Qualität von Studien nach Mayer et al. (2021) eingesetzt. Es wurden zwei unterschiedliche Bewertungstools eingesetzt, um einen möglichst differenzierten Blick zu gewinnen.
Die Studien wurden unter nachfolgenden Gesichtspunkten analysiert: Forschungsproblem, Forschungsfrage und Ziel, Aufarbeitung des Forschungsstandes, Design, Sample oder Stichprobe, Datenerhebung, Ethische Diskussion, Datenanalyse, Ergebnisdarstellung, Diskussion und Schlussfolgerung sowie Literarturangaben (Mayer et al. 2021).
Ergebnisse
Bei den sechs inkludierten Publikationen handelt es sich um eine Mixed-Methods-Studie (Lampalzer et al. 2019), eine qualitative Studie (Lottmann 2020), drei Querschnittstudien (Brennan-Ing et al. 2021; Frederiksen-Goldsen et al. 2014; Lyons et al. 2021) sowie eine qualitative Sekundärstudie (Toze et al. 2020). In Tab. 3 werden die inkludierten Studien detaillierter beschrieben.
Tab. 3
Inkludierte Studien
Autor*innen | Jahr | Land | Forschungsfrage/Ziel | Designs & Methode(n) |
---|---|---|---|---|
Successful Ageing Among LGBT Older Adults: Physical and Mental Health-Related Quality of Life by Age Group | ||||
Frederiksen-Goldsen K, Kim H‑J, Shiu C, Goldsen J & Emlet C | 2014 | USA | Die Studie verfolgt das Ziel, die Beziehungen zwischen körperlicher und geistiger gesundheitsbezogener Lebensqualität und Kovariaten nach Altersgruppen darzustellen. Die Forschungsfrage erschließt sich aus dem Ziel | Quantitatives Design; Querschnittsstudie(Fragebögen) |
The Needs of LGBTI People Regarding Health Care Structures, Prevention Measures and Diagnostic and Treatment Procedures: A Qualitative Study in a German Metropolis | ||||
Lampalzer U, Behrendt P, Dekker A, Briken P & Nieder T | 2019 | Deutschland | Welche Versorgungsstrukturen, Präventionsmaßnahmen und Diagnose- sowie Behandlungsverfahren benötigen LGBTI-Personen, um eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung zu erhalten? | Qualitative Triangulation (Expert*innen-Interviews & Fokusgruppen) |
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in der Altenhilfe – Intersektionale Perspektiven und die Relevanz von Situationen und Kontexten | ||||
Lottmann, R | 2020 | Deutschland | Inwiefern prägt der individuelle Umgang mit sexuellen oder geschlechtlichen Identitätskategorien über das gesamte Leben die Strategien und Bedarfe ältere LSBTI? Welche Erfahrungen machen Menschen mit Strukturen der Altenhilfe, die eine normative Sexualität leben bzw. deren Geschlecht nicht gemäß normativen Ideen von Geschlecht zu bestimmen ist? | Qualitatives Design (narrative Interviews) |
Applying a Capabilities Approach to Understanding Older LGBT People’s Disclosures of Identity in Community Primary Care | ||||
Toze M, Fish J, Hafford-Letchfield T & Almack K | 2020 | UK | Die Studie verfolgt das Ziel, Berichte über die Offenlegung des LGBT-Statuses im Gesundheitswesen zu analysieren. Der Einfluss der Offenlegung auf den Gesundheitszustand soll analysiert werden | Qualitative Sekundäranalyse |
Sexual Health Among Lesbian, Gay, Bisexual, and Heterosexual Older Adults: An Exploratory Analysis | ||||
Brennan-Ing M, Kaufman J, Larson B, Gamarel K, Seidel L & Karpiak S | 2021 | USA | Unterschiede hinsichtlich der sexuellen Aktivität und sexuellen Probleme zwischen selbstidentifizierten älteren LGB Personen, verhaltensdefinierten älteren LGB Personen und älteren heterosexuellen Personen wurden untersucht | Quantitatives Design; Querschnittsstudie (self-administered survey format) |
Comfort Among Older Lesbian and Gay People in Disclosing Their Sexual Orientation to Health and Aged Care Services | ||||
Lyons A, Alba B, Waling A, Minichiello V, Hughes M, Barrett C, Fredriksen-Goldsen K, Edmonds S & Pepping C | 2021 | Australien | Die Studie verfolgt zwei Hauptziele. Zum einen die Untersuchung des Anteils der Teilnehmer*innen, die sich bei der Offenlegung ihrer sexuellen Orientierung gegenüber Dienstleistern des Gesundheitswesens und der Altenpflege völlig wohl fühlten, und zum anderen die Ermittlung von Prädiktoren für das Gefühl, die eigene sexuelle Orientierung gegenüber Anbieter*innen von Gesundheits- und Altenpflegediensten offenzulegen | Quantitatives Design; Querschnittstudie (online Survey) |
Die nachfolgenden Unterkapitel orientieren sich an den drei Themen, die aus der Synthese der Erkenntnisse aus den Studien gewonnen werden konnten.
Aufklärung und Schulungen von Fachkräften
Der quantitativen Querschnittstudie von Brennan-Ing et al. (2021) zufolge besteht eine erhebliche Wissenslücke über die sexuelle Gesundheit der älteren homo- und bisexuellen Bevölkerung. Mehr Aufklärung und Schulung von Fachkräften im Gesundheitswesen kann laut den Autor*innen zu einer vermehrten Beachtung der sexuellen Gesundheit von LGB-Personen führen (Brennan-Ing et al. 2021). Die sexuelle Gesundheit ist abhängig von dem körperlichen sowie emotionalen und psychischen Wohlbefinden. Die Förderung der sexuellen Gesundheit älterer Erwachsener hat daher auch das Potenzial, gleichzeitig einen positiven Einfluss auf die körperliche und psychische Gesundheit zu haben (Brennan-Ing et al. 2021).Laut Brennan-Ing et al. (2021) werden die Bedürfnisse älterer Erwachsener in Bezug auf ihre sexuelle Gesundheit unabhängig von der sexuellen Orientierung nur selten in Gesundheitseinrichtungen angesprochen. Die Ergebnisse unterstreichen somit den Bedarf an mehr Forschung zur sexuellen Gesundheit von älteren Erwachsenen allgemein und im Besonderen von LGB Personen. In Bezug auf die klinischen Implikationen lässt sich festhalten, dass die mangelnde Beachtung der sexuellen Gesundheit von älteren (LGB-)Erwachsenen im Gesundheitswesen durch Altersdiskriminierung und Heteronormativität verstärkt werden kann. Dies kann dazu führen, dass Personen ihre sexuelle Orientierung und ihre Bedürfnisse nicht offenlegen und Gesprächen über Sexualität ausweichen. Zum Umgang mit dieser Situation braucht es vermehrte Schulung und Aufklärung von Pflegepersonen (Brennan-Ing et al. 2021).
Strukturelle Rahmenbedingungen
Toze et al. (2020) beschreiben in ihrer qualitativen Sekundäranalyse die zunehmend internationale rechtliche Gleichstellung von homosexuellen, bisexuellen und transsexuellen Personen (LGBT) und führen aus, dass diese Gruppe gleichzeitig nach wie vor erhebliche Ungleichheiten im Bereich der öffentlichen Gesundheit erfährt. Entsprechend werden Interventionen benötigt, um diese Ungleichheiten zu beseitigen. Spezifische Daten über diese Bevölkerungsgruppe werden häufig nicht erhoben. Die Arbeit von Toze et al. (2020) befasst sich mit einer Fallstudie aus dem Vereinigten Königreich, die sich mit Vorschlägen zur Erhebung von Gesundheitsdaten über LGBT-Populationen auseinandersetzt.
In der Studie finden sich Argumente, dass der Wert von Gesundheitsinformationen über den LGBT-Status danach beurteilt werden sollte, ob diese dazu beitragen einen besseren Zugang zu einer guten Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Die Arbeit stützt sich auf qualitative Berichte von 36 älteren LGBT-Personen über die Offenlegung ihres LGBT-Status in einer britischen Allgemeinarztpraxis. Die Schilderungen der Teilnehmer*innen zu den Vorteilen und Risiken der Offenlegung der sexuellen Orientierung konnten mit mehreren Bereichen des Gesundheitszustandes in Verbindung gebracht werden. Darunter solche, die eng mit Aspekten wie Langlebigkeit und körperlicher Gesundheit zusammenhängen, aber auch mit Themen wie Emotionen und Zugehörigkeitsgefühlen (Toze et al. 2020). Strukturelle Bedingungen wie die Erhebung der sexuellen Orientierung können demnach mit dem Gesundheitszustand in Verbindung gebracht werden.
Die quantitative Querschnittsstudie von Lyons et al. (2021), in der ein Online Survey durchgeführt wurde, greift ebenfalls strukturelle Rahmenbedingungen auf. In einer Stichprobe mit 752 homosexuellen Erwachsenen im Alter von 60 Jahren und älter wurde herausgefunden, dass nur 51 % der homosexuellen Frauen und 64 % der homosexuellen Männer sich völlig wohl dabei fühlten, ihre sexuelle Orientierung gegenüber Anbieter*innen von Gesundheits- und Altenpflegeleistungen offenzulegen.
Die qualitative Studie von Lampalzer et al. (2019) ist die erste, die sich auf die LGBTI-bezogene Gesundheitsversorgung in einer deutschen Großstadt konzentriert. Ziel war, die Versorgungsstrukturen, Präventionsmaßnahmen und Diagnose- sowie Behandlungsverfahren zu untersuchen, die LGBTI-Personen benötigen, um eine angemessene patientenzentrierte Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung zu erhalten (Lampalzer et al. 2019). Hierzu wurden Expert*innen-Interviews und Fokusgruppen-Interviews durchgeführt. Lampalzer et al. (2019) kamen zu dem Ergebnis, dass die spezifischen Bedürfnisse von LGBTI-Personen im Sinne von Entpathologisierung, Sensibilisierung, Inklusion und Bewusstseinsbildung als Selbstverständlichkeit anerkannt werden müssen.
Sicheres Umfeld durch bedarfsgerechte Versorgung
Die dritte Kategorie des sicheren Umfelds durch eine bedarfsgerechte Versorgung beinhaltet die Studien von Lottmann (2020) und von Frederiksen-Goldsen et al. (2014). Die qualitative Studie von Lottmann (2020) befasst sich mit der Problematik, dass eine individuelle und personenzentrierte Versorgung im Alter als ein selbstverständliches Ziel in der Altenhilfe angesehen wird, jedoch die tatsächlichen Rahmenbedingungen dem zumeist entgegenwirken. Die Studie geht gezielt auf das Thema Diversität im Alter ein. Das Ziel der Studie ist es, Umstände und Situationen zu thematisieren, in denen die sexuelle und geschlechtliche Identität in einer Wechselwirkung mit anderen Merkmalen steht. Ferner wird untersucht, wie der individuelle Umgang mit sexuellen oder geschlechtlichen Identitätskategorien über das Leben hinweg die Strategien und Bedürfnisse älterer LSBTI-Personen beeinflussen. Es wird erörtert, welche Erfahrungen ältere LSBTI-Menschen mit der Altenhilfe machen (Lottmann 2020). Methodisch verfolgt die Studie anhand biografisch narrativer Interviews die Fokussierung der Situation von LSBTI Senioren*innen. Die sexuelle Identität wird bei der Gesundheitsversorgung im Alter häufig nicht thematisiert. Sie wird meist im Verborgenen ausgelebt und in Situationen verschwiegen, in den die Betroffenen sich nicht sicher fühlen. Diese Ängste und Vorbehalte gehen aus vielen der Interviews klar hervor (Lottmann 2020).
Frederiksen-Goldsen et al. (2014) gehen in ihrer quantitativen Studie auf die Thematik ein, dass homosexuelle, bisexuelle und transgender (LGBT) Personen laut Healthy People 2020 zu den gesundheitlich benachteiligten Bevölkerungsgruppen gehören. Unter Verwendung eines Resilienzrahmens untersuchen Frederiksen-Goldsen et al. (2014) die Beziehung zwischen körperlicher und geistiger gesundheitsbezogener Lebensqualität nach Altersgruppen. Methodisch kam eine Querschnittserhebung unter LGBT-Erwachsenen im Alter von 50 Jahren und älter (N = 2560) zur Anwendung, die von „Caring and Aging with Pride: The National Health, Aging and Sexuality Study“ in Zusammenarbeit mit 11 Standorten in den USA durchgeführt wurde (Frederiksen-Goldsen et al. 2014
). Die Qualität der körperlichen und geistigen Gesundheit stand laut Frederiksen-Goldsen et al. (2014
) in einem negativen Zusammenhang mit Diskriminierung und chronischen Erkrankungen. In einem positiven Zusammenhang standen die soziale Unterstützung, die Größe des sozialen Netzwerks, körperliche Aktivitäten und Freizeitaktivitäten, der Nichtkonsum von Substanzen, eine Beschäftigung, das Einkommen etc. Die Lebensqualität im Bereich der psychischen Gesundheit stand auch in einem positiven Zusammenhang mit einem positiven Gefühl in Bezug auf die sexuelle Identität und in einem negativen mit der Offenlegung der sexuellen Identität. Wichtige Unterschiede ergaben sich zwischen den Altersgruppen, wobei der Einfluss von Diskriminierung in der Gruppe der Hochbetagten besonders deutlich war. Diese Studie untersucht erstmals die physische und psychische Gesundheit als Indikator für erfolgreiches Altern bei älteren LGBT-Erwachsenen (Frederiksen-Goldsen et al. 2014). Es wird deutlich, dass die sexuelle Orientierung leichter thematisiert werden kann, wenn ein Umfeld geboten ist, das Sicherheit vermittelt. Ist die sexuelle Orientierung bekannt, kann die Pflege auch individueller angepasst werden.
Diskussion
Im Ergebnisteil wurden drei Hauptkategorien identifiziert, die sich für die Beantwortung der Forschungsfrage „Wie kann die Identität homosexueller älterer Menschen durch die Unterstützung von Pflegepersonen gewahrt werden?“ als relevant herausstellten: „Aufklärung und Schulung von Fachkräften“, „Strukturelle Rahmenbedingungen“ und „Sicheres Umfeld durch bedarfsgerechte Versorgung“. Wie bereits angeführt, gehören Merkmale wie Geschlecht, Sexualität und Alter zu den Bestimmungsmerkmalen, wie Personen ihre Identität definieren und erfahren (Lucius-Hoene 2021). Damit die Identität von homosexuellen älteren Personen im Pflegekontext gelebt werden kann, braucht es ein sicheres Umfeld. Die Ergebnisse zeigen, dass auf verschiedenen Ebenen angesetzt werden muss, um dies zu erreichen. Nachfolgend werden die Ergebnisse zusammengefasst und diskutiert.
Für den Bereich Aufklärung und Schulung kann festgehalten werden, dass Aufklärungs- und Schulungsangebote für Fachkräften im Gesundheitswesen über den Zusammenhang von sexueller, körperlicher und psychischer Gesundheit zentral für die Gesundheitsversorgung sind. Darüber hinaus muss ein besseres Verständnis für spezifische Soft- und Hard-Skills entwickelt werden und Dienstleistungen sollten inklusiver werden (Brennan-Ing et al. 2021).
Zur Thematik strukturelle Rahmenbedingungen empfehlen Toze et al. (2020), Themen wie Vertraulichkeit und Nichtdiskriminierung in den Blick zu nehmen. Lyons et al. (2021) geben in ihrer Studie an, dass sich homosexuelle Menschen dabei wohl fühlen, die eigene sexuelle Orientierung offenzulegen, wenn Gesundheitseinrichtungen Vertraulichkeit zusichern und ein nicht wertendes Umfeld schaffen. Mitarbeiter*innen in Gesundheits- und Altenpflege sollten daher daran arbeiten, den Umgang inklusiver zu gestalten. Inklusives Handeln der Mitarbeiter*innen kann wiederum durch Schulung gefördert werden (Lyons et al. 2021).
Lampalzer et al. (2019) kommen zu dem Schluss, dass die spezifischen Bedürfnisse von LGBTI-Personen im Sinne von Entpathologisierung, Sensibilisierung, Inklusion und Bewusstseinsbildung als Selbstverständlichkeit anerkannt werden müssen. Ein grundlegendes Wissen über LGBTI-bezogene Gesundheitsthemen, wie auch ein spezifisches Fachwissen über Themen wie Geschlecht, sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität, wird als Grundvoraussetzung definiert (Lampalzer et al. 2019).
Im Zusammenhang mit der Kategorie sicheres Umfeld durch bedarfsgerechte Versorgung fordert Lottmann (2020) eine bedarfsgerechte und personenzentrierte Altenhilfe sowohl für LSBTI-Personen als auch heterosexuelle Senior*innen. Hierfür sind wiederum die strukturellen Rahmenbedingungen relevant. Frederiksen-Goldsen et al. (2014) kommen in ihrer Studie zu dem Schluss, dass ein Verständnis über die Zusammenstellung von Ressourcen und Risiken nach Altersgruppen notwendig ist, um die Entwicklung von Alters- und Gesundheitsinitiativen zu ermöglichen, die auf die ältere Bevölkerungsgruppe zugeschnitten sind.
Aus der Analyse der sechs inkludierten Studien (Lampalzer et al. 2019; Lottmann 2020; Brennan-Ing et al. 2021; Frederiksen-Goldsen et al. 2014; Lyons et al. 2021; Toze et al. 2020) haben sich die drei Kategorien ergeben, die zur Verbesserung der Pflege homosexueller älterer Menschen beitragen können. Diese Kategorien stehen in enger Verbindung zueinander. Die konkrete Bezeichnung „Wahrung der Identität“ findet in den Studien keine explizite Erwähnung, jedoch wird das Thema indirekt bearbeitet (Brennan-Ing et al. 2021; Lottmann 2020). Die Forschungsergebnisse legen dar, wie wichtig ein besseres Verständnis der Bedürfnisse von homosexuellen älteren Menschen ist und auch von älteren Menschen im Allgemeinen. Aus den Ergebnissen geht klar hervor, dass die allgemeine Wahrnehmung dieser Zielgruppe wächst, ein Wandel spürbar und ein Bedarf an Forschung vorhanden ist. Die Erwartung, dass konkrete anwendbare Maßnahmen zur Wahrung der Identität homosexueller älterer Menschen in den Studien beschrieben werden, konnte nur teilweise erfüllt werden. Während die Wahrung der Identität nicht konkret thematisiert wurde, finden sich viele Hinweise, wie die (pflegerische) Situation dieser Personen verbessert werden kann. Dies kann sich wiederum auf die Wahrung der Identität auswirken.
Im Allgemeinen sprechen alle inkludierten Studien (Lampalzer et al. 2019; Lottmann 2020; Brennan-Ing et al. 2021; Frederiksen-Goldsen et al. 2014; Lyons et al. 2021; Toze et al. 2020) an, dass die Biografien und die Erfahrungen der homosexuellen Menschen berücksichtigt werden müssen. Wird die sexuelle Gesundheit gefördert, wirkt sich dies gleichzeitig auf andere körperliche und psychische Aspekte aus. In der Literatur zur Pflege älterer Menschen zeigt sich, dass es für die Wahrung der Identität unabdingbar ist, dass der Mensch so lange wie möglich handlungsfähig bleibt und eine Interaktion mit der Umwelt stattfinden kann (Gerlach und Schupp 2017; Lucius-Hoene 2021). Dies steht wiederum in Zusammenhang mit den ethischen Ansprüchen der Gesundheitsversorgung (Schnell 2017).
Die Biografien und Erfahrungen können durch spezifisches Fachwissen in die Pflege miteinbezogen werden. Die Identität eines Menschen ergibt sich wiederum daraus, wie er sich selbst aus seiner biografischen Entwicklung heraus wahrnimmt und versteht. Dieser Vorgang geschieht in ständiger Auseinandersetzung mit dem sozialen Umfeld (Lucius-Hoene 2021). Lottmann (2020) beschreiben, dass ein intersektionaler Blick ermöglicht, Situationen und Kontexte zu erkennen, die für die Identität von LSBTI-Senior*innen relevant sind. So ist eine bedarfsgerechte und personenzentrierte Altenhilfe sowohl für LSBTI-Personen als auch für heterosexuelle Senioren*innen möglich. Frederiksen-Goldsen et al. (2014) geben an, dass ein Verständnis über Ressourcen und Risiken nach Altersgruppen für die Entwicklung von Alters- und Gesundheitsinitiativen wichtig ist. Dies sind Forderungen, die in Bezug auf die Biografiearbeit durchaus auch auf die Wahrung der Identität zutreffen (Frederiksen-Goldsen et al. 2014).
Als Hauptfaktor, warum häusliche Pflege häufig von homosexuellen älteren Personen abgelehnt wird, wurde von Betroffenen die Angst vor Homophobie und Erfahrung mit Diskriminierung angeführt. Darüber hinaus sind zumeist Pflegedienste und Pflegeeinrichtungen hinsichtlich ihrer Pflegekonzepte konzeptionell nicht auf die Zielgruppe homosexueller Menschen ausgerichtet (Gerlach und Schupp 2017). Besonders Lottmann (2020) hebt hervor, dass in den geführten Interviews mit den Betroffenen Ängste und Vorbehalte sichtbar wurden. In der Studie von Lyons et al. (2021) zeigte sich, dass sich nur 51 % der homosexuellen Frauen und 64 % der homosexuellen Männer bei der Offenlegung ihrer sexuellen Orientierung gegenüber einem Anbieter*innen von Gesundheits- und Altenpflegeleistungen sicher fühlten.
Aufgrund von gesellschaftlicher Tabuisierung des Themas „Sexualität im Alter“ verspüren ältere Menschen oftmals einen Konflikt zwischen den eigenen Lebensimpulsen und den gesellschaftlichen Erwartungen (Rüdiger 2013). Lottmann (2020) führt in seiner Studie aus, dass sich LSBTI-Personen in der Altenhilfe mit ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität oft nicht willkommen fühlen. Dass Sexualität im Alter weiterhin relevant ist, belegt auch die Studie von Brennan-Ing et al. (2021), in der beschrieben wird, dass ältere LGB-Erwachsene mit gleicher Wahrscheinlichkeit sexuell aktiv bleiben wie heterosexuelle Menschen.
Kranz (2020) beschreibt, dass die Wahrung der Identität von erlebter Diskriminierung, befürchteter Diskriminierung, der Internalisierung des Stigmas und dem Verbergen oder Leugnen der eigenen Identität abhängig ist. Diskriminierungserfahrungen wurden in mehreren der identifizierten Studien angesprochen (Brennan-Ing et al. 2021; Toze et al. 2020; Frederiksen-Goldsen et al. 2014). Zudem sind laut Kranz (2020) Faktoren der Resilienz von großer Bedeutung für die Wahrung der Identität. In den eingeschlossenen Studien wurden auch die sozialen Beziehungen und das soziale Umfeld als wichtig beschrieben (Lottmann 2020; Frederiksen-Goldsen et al. 2014). Die Forderung nach Respekt und Akzeptanz findet sich durchwegs in den eingeschlossenen Studien, wie auch die Äußerung des Bedarfs eines starken Selbstwertgefühls und Selbstvertrauens (Lampalzer et al. 2019). Dies verweist auf die nach wie vor bestehenden Herausforderungen für homosexuelle Personen und die häufig gestellte Forderung, diese individuell zu bewältigen, anstatt die strukturellen Bedingungen in den Blick zu nehmen. Wenn auch die Identitätswahrung nicht konkret als Konzept angesprochen wird, zeigen sich die eruierten Kategorien „Forschung und Schulung von Fachkräften“, „sicheres Umfeld durch bedarfsgerechte Versorgung“ und „strukturelle Rahmenbedingungen“ als relevant dafür. Gerade auch die Forderung nach Respekt und Akzeptanz setzt jedoch auch eine bestimmte Grundhaltung und bestimmte Werte voraus. Auch im § 4 (1) des österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegegesetzes findet sich diese Forderung wieder: „Angehörige der Gesundheits- und Krankenpflegeberufe haben ihren Beruf ohne Unterschied der Person gewissenhaft auszuüben.“ In § 12 (1) und § 14 (2) wird von den Pflegenden zusätzlich ethisches Handeln gefordert (RIS 2024).
Gerlach und Schupp (2018) beschreiben, dass das pflegerische Handeln grundlegend dazu beitragen kann, die Identität alter homosexueller Menschen zu stärken oder auch zu beschädigen. Sie betonen ebenfalls, dass homosexuelle Pflegebedürftige Anerkennung und Zuwendung, eine rechtliche Gleichstellung und soziale Wertschätzung für die Stärkung ihrer Identität benötigen. Aus den gefundenen Studien (Brennan-Ing et al. 2021; Toze et al. 2020; Frederiksen-Goldsen et al. 2014; Lottmann 2020; Lampalzer et al. 2019) geht der Bedarf nach diesen Aspekten klar hervor. Um dem gerecht zu werden, fehlen derzeit noch konkrete Konzepte, Methoden und Prozesse (Lyons et al. 2021).
Limitationen
Für die Literaturrecherche wurde der aktuelle Stand der internationalen Literatur zum Bereich der Pflege homosexueller alter Menschen und der Wahrung ihrer Identität durchforstet. Da sich diese Studie aus einer Qualifikationsarbeit mit begrenzten Ressourcen entwickelt hat, besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit. Die Ergebnisse haben klar gezeigt, dass die Thematik noch nicht ausreichend erforscht wurde. In den gefundenen Studien werden viele Ansätze analysiert und beschrieben. Jedoch konnten keine Studien explizit zur Wahrung der Identität bei homosexuellen älteren Menschen durch die Unterstützung von Pflegepersonen identifiziert werden. Das Thema wurde in den Studien meist am Rande oder mit Blick auf eine größere Gruppe (LGBTIQ+) thematisiert. Zudem sprechen manche Studien von LSBTI, manche von LGBT und manche von homosexuellen Personen und unterscheiden sich demnach hinsichtlich der einbezogenen Personengruppen. Die Erkenntnisse wurden durch eine tiefgehende Analyse der gefundenen Literatur herausgearbeitet. Die Ergebnisse stellen somit eine Annäherung an das Thema dar, zeigen jedoch auch den großen Forschungsbedarf auf.
Schlussfolgerungen
Vor den politischen Änderungen zur Gleichstellung von homosexuellen Personen (z. B. in Österreich) prägte und prägt Angst und Diskriminierung bis hin zu Verfolgung in vielen Ländern das Leben vieler heute älterer homosexueller Menschen. Dies könnte die häufig vorkommende Angst vor einem offenen Umgang mit der Thematik erklären. Dieser Aspekt hat Einfluss auf den Bereich der Pflege und es muss darauf reagiert werden.
Die durchgeführte Literaturrecherche hat aufgezeigt, dass zu dieser Thematik großer Forschungsbedarf besteht. Forschung, die sich mit Methoden, Prozessen und Erhebungskonzepten für die pflegerischen Bedürfnisse dieser Zielgruppe auseinandersetzt, wird noch zu wenig betrieben. In Bezug auf eine Pflege im Sinne von Pflegehandlungen muss verdeutlicht werden, dass kaum die Notwendigkeit einer speziellen Pflege homosexueller Menschen an sich besteht, da jeder Mensch, egal mit welcher sexuellen Orientierung, respektiert und personenzentriert gepflegt werden soll (Lampalzer et al. 2019). Dies setzt eine gewisse Grundhaltung und bestimmte Werte von Pflegenden voraus, die auch im § 4 (1) des österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegegesetz angesprochen werden: „Angehörige der Gesundheits- und Krankenpflegeberufe haben ihren Beruf ohne Unterschied der Person gewissenhaft auszuüben“ (RIS 2024). Spezielles Augenmerk muss bei der Pflege von homosexuellen älteren Menschen jedoch auf die Bereiche Erstkontakt, Vertrauensaufbau, soziales Gefüge, Angehörigenarbeit, Biografiearbeit, strukturelle Rahmenbedingungen und Verständnis für die sexuellen Bedürfnisse gelegt werden (Lottmann 2020; Lampalzer et al. 2019).
Pflegepersonen können die Wahrung der Identität homosexueller älterer Personen durch Anerkennung in Form von Zuwendung durch pflegerische Betreuung und soziale Wertschätzung fördern. Zudem ist es wichtig, dass eine rechtliche sowie strukturelle Gleichstellung homosexueller Personen im Pflegekontext und darüber hinaus erfolgt. Eine rechtliche Gleichstellung ist unerlässlich dafür, dass die Identität als homosexuelle Person gestärkt werden kann und die Menschenrechte Gültigkeit erlangen (Gerlach und Schupp 2018). Eine vertiefende Forschung zur Wahrung der Identität alter homosexueller Menschen kann nach den drei von Gerlach und Schupp (2018) definierten Aspekten (Anerkennung, soziale Wertschätzung und rechtliche Gleichstellung) dazu beitragen, Methoden und Prozesse zu entwickeln, die das Menschsein schützen und ungewollte Missachtung der Identität durch Pflegepersonen verhindern. Müller und Holtbernd (2019) sehen es als wichtige Aufgabe, Sexualität im Rahmen von pflegerischen Situationen nicht zu vernachlässigen. Dieser Aspekt ist für alle Menschen wichtig und wurde in dieser Studie exemplarisch an der Gruppe homosexueller, älterer Personen verdeutlicht. Weitere Forschung und Aufklärung sind auch künftig ein wichtiger Aspekt, um homosexuellen alten Menschen den Zugang zu Pflegedienstleistungen zu erleichtern. Es geht darum, Prozesse zu verbessern und die Gleichstellung verschiedener Bevölkerungsgruppen auch in der Pflege zu beschleunigen. Nur über die Wahrung der Identität kann dem ethischen Anspruch der Nichtexklusivität im Gesundheitswesen entsprechend gehandelt werden. In den gefundenen Studien zeigte sich, dass die Beachtung der sexuellen Orientierung und sexuellen Gesundheit mit anderen Gesundheitsfaktoren in Zusammenhang steht. Die Beachtung dieses Aspekts zeigt sich somit als zentral, um eine umfassende und gerechte Gesundheitsversorgung anbieten zu können. Aeschlimann (2019, S. 10) sieht die Aufgabe der Pflege in diesem Zusammenhang darin, „die sexuelle Integrität und Privatsphäre zu achten, den unterschiedlichen sexuellen Orientierungen, Identitäten und Ausdrucksformen sowie dem Recht auf Privatheit und Information Rechnung zu tragen“. Es wäre wichtig (Schulungs‑)Konzepte zum Thema Wahrung von Identität und Würde in Zusammenhang mit Diversität zu evaluieren. So könnte man Aussagen darüber treffen, inwiefern der Umgang z. B. mit hochaltrigen, homosexuellen Personen gelernt werden kann.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
D. Boldt und C. Brandstötter-Gugg geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Ethische Standards
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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Lizenzinformation und Veröffentlichungsdetails
Der folgende Text ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Titel: Homosexualität im Alter – Wahrung der Identität im Pflegekontext. Eine Literaturübersicht.
Verfasst von: Dietmar Boldt, BScN, Dr. Cornelia Brandstötter-Gugg, B.A. MA
Quellenangabe: D. Boldt und C. Brandstötter-Gugg geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Originalveröffentlichung: Springer Medizin
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